Magersucht und Bulimie - Wie Sie Alarmsignale richtig deuten

Datum 01.01.2012 13:14 | Thema: Pressestimmen

"Magersucht und Bulimie - Wie Sie Alarmsignale richtig deuten"

Artikel auf www.news.de am 01.01.2012 - mit der Ernährungstherapeutin Conny Rabe und Redakteurin Corina Broßmann

Blass, kränklich, abgeschlagen? Sorgen auch Sie sich um die ständig hungernde Tochter oder Freundin? Eine Therapeutin erklärt im news.de-Gespräch, woran Sie eine Essstörung erkennen und wie Sie diese von einer unbedenklichen Diät unterscheiden können.


Gibt es typische Sätze, Floskeln oder Ausreden, die Essgestörte häufig äußern?

Conny Rabe: Aus der panischen Angst heraus, dick zu sein oder dick zu werden, täuschen Betroffene meist ein normales Essverhalten vor. Typische Ausreden sind deshalb: «Ich habe vorhin schon gegessen», «Ich war mit Freuden essen», «Ich habe keinen Hunger», «Ich habe Bauchschmerzen». Um die restriktive Auswahl der Lebensmittel beibehalten zu können, ohne sich erklären zu müssen, können etwa Unverträglichkeit von Gluten oder Laktoseunverträglichkeit vorgeschoben werden, die dann das Weglassen von kohlenhydratreichen oder fettreichen Milchprodukten für andere erklären. Oft können auch bestimmte Ernährungsweisen ohne wirkliche ideologische Überzeugung wie Vegetarismus oder Veganismus dafür benutzt werden, sehr viele kalorienreiche Lebensmittel wegzulassen, die als fettreich und ungesund gelten. Auch Essenseinladungen können somit leichter abgelehnt werden, so dass dies zu Beginn nicht weiter auffällt.

Welche Ängste sind Frauen und Mädchen mit einem gestörten Essverhalten anzumerken?

Conny Rabe: Essgestörte haben eine extreme, krankhafte Angst vor dem Dickwerden beziehungsweise Dicksein und damit eine übersteigerte Besorgnis um Gewicht und Figur. Die Angst vor einer Gewichtszunahme kann mit einem alldurchdringenden Gefühl der Unzulänglichkeit gepaart sein, das ihnen ein Grundgefühl vermittelt, nie gut genug zu sein. Mithilfe einer Gewichtsreduktion versuchen sie dieses Gefühl der inneren Defizite zu kompensieren. Durch das meist niedrige Selbstwertgefühl, was sich in Perfektionismus widerspiegeln kann, erleben sich die Betroffenen als nicht liebenswert, was zur permanenten Verlust- oder Versagensangst führen kann.

Müssen Bulimiker zwingend Gewicht verlieren, um als ernsthaft krank zu gelten?

Conny Rabe: Nicht unbedingt. Bei Betroffenen, die an einer Bulimie erkranken, liegt das Körpergewicht gewöhnlich im Normal- beziehungsweise Idealbereich. Innerhalb dessen kann es aber sehr stark schwanken. Ausgelöst werden diese Gewichts-Pendeleien durch wechselnde Phasen des Hungerns und der übermäßigen Nahrungsaufnahme. Es ist aber aufgrund körperlicher und hormoneller Zeichen einer Mangelernährung zu vermuten, dass viele Bulimiekranke ein höheres Set-Point-Gewicht (angeborenes Körpergewicht) haben und daher auch bei scheinbarem Normalgewicht für ihre Verhältnisse untergewichtig sind.

Ab wann kann man an Haut, Haaren und Zähnen erste Zeichen erkennen?

Conny Rabe: Im Laufe der Erkrankung kann die Haut sehr rauh, rissig, schuppig, trocken und fahl werden. Manche Betroffene bekommen sprödes, strohiges Haar bis zum Haarausfall. Der saure Magensaft kann bei Bulimikerinnen und bulimisch Magersüchtigen zur sogenannten Bulimic Dental Disease führen, welche durch Zahnschmelzschäden und Zahnfleischerkrankungen mit Zahnausfall und Karies gekennzeichnet ist. Eine beid- oder einseitige Vergrößerung der Ohrspeicheldrüse und der Unterzungenspeicheldrüse kann durch häufige Ess-Brech-Zyklen auftreten. Die Vergrößerungen der Speicheldrüsen sind zwar reversibel, die Schäden an den anderen Organen des Verdauungstraktes dagegen nicht. Verätzungen und Entzündungen der unteren Speiseröhre sind nicht selten, da häufiges Erbrechen den Ventilmechanismus zwischen Speiseröhre und Magen stören und somit Magensäure die Speiseröhrenschleimhaut schädigen kann. In Extremfällen können Speiseröhrenrisse, Einrisse in der Magenschleimhaut und Risse der Magenwand vorkommen, die Folge der Magenüberdehnung durch eine Heißhungerattacke nach Nahrungsrestriktion sein können. Auch blutiges Erbrechen kann Konsequenz davon sein.

Frieren Essgestörte wirklich schneller?

Conny Rabe: Infolge der wechselnden Phasen zwischen Hungern und übermäßigem Essen mit Erbrechen bei Bulimie und des permanenten Hungerns bei der reinen Magersucht lernt der Organismus, Schutzmechanismen aufzubauen und überlebenswichtige Energieressourcen zu aktivieren, um die Lebensfähigkeit zu sichern. Das heißt, der Organismus lernt, alle Stoffwechselvorgänge, die er nicht unbedingt zum Überleben braucht, zu drosseln. Anzeichen hierfür können sein: niedriger Blutdruck mit blassem Aussehen, erniedrigter Pulsschlag und ständiges Frieren mit kalten Händen und Füßen. Der Grundumsatz ist herabgesetzt.

Stimmt es, dass Unterernährte eine stärkere Körperbehaarung entwickeln?

Conny Rabe: Da ist zu unterscheiden, ob es sich um eine Unterernährung mit massivem Untergewicht handelt oder um eine Unterernährung im Normal- oder Idealgewichtsbereich. Bei Unterernährung mit massivem Untergewicht, mit einem Body-Mass-Index von weniger als 17,5 können morphologische Veränderungen an Haut, Haaren und Nägeln auftreten. Dazu zählt die Lanugobehaarung an Rumpf, Gliedmaßen und im Gesicht. Diese flaumartige Behaarung ist darauf zurückzuführen, dass das Körperfett sehr stark reduziert ist, was als Wärmespeicher zur Erhaltung der Körpertemperatur dient. Diese Art von Behaarung haben ansonsten nur Neugeborene, da sie kältempfindlich sind und schnell unterkühlen.

Ist das Ausbleiben der Menstruation ein ernstes Zeichen oder sind Zyklusstörungen eher allgemein stressbedingt?

Conny Rabe: Innerhalb des Hormonhaushaltes sind häufig sehr ernstzunehmende Veränderungen bei Betroffenen durch das gestörte Essverhalten zu verzeichnen. Ein Körperfettanteil von 23 Prozent ist für den weiblichen Körper zur Aufrechterhaltung seiner hormonellen Funktion und des Menstruationszykluses erforderlich. Zum Einsetzen der Menarche ist dagegen ein prozentualer Fettanteil von 17 Prozent notwendig. Mangelernährung durch Hungern, gezügeltes Essverhalten, Essanfälle, Erbrechen und demzufolge Gewichtsabnahme oder massive Gewichtsschwankungen haben zur Folge, dass bestimmte Hormone in einem geringeren Umfang ausgeschüttet werden. Dadurch haben weibliche Magersuchtsbetroffene meist eine Amenorrhoe oder eine sehr unregelmäßige Menstruation. Bulimiekranke können dagegen einen normalen Menstruationszyklus haben, der aber ohne Eisprung stattfindet, was zur Unfruchtbarkeit führen kann. Bleibt Menstruation aus, kann das auch psychosomatisch, also konfliktbedingt sein. Sie tritt meist schon in Anfangsphasen der Erkrankung auf, häufig noch bevor eine stärkere Gewichtsabnahme erkennbar ist.

Wie sieht es mit der Libido Essgestörter aus?

Conny Rabe: Infolge der Mangelernährung, der körperlichen und hormonellen Folgeerscheinungen, der psychischen und sozialen Veränderung kommt es zu sexuellen Störungen, die sich in einem Libido- beziehungsweise Potenzverlust zeigen können.

Wie verändern sich soziale Kontakte?

Conny Rabe: Die Beschäftigung mit Essen, Nichtessen, Körper, Gewicht, Figur, Kalorienzählen und Strategien zur Vermeidung einer Gewichtszunahme können zum einzigen Lebensinhalt, zum einzigen Tageswerk werden, wobei die Betroffenen immer mehr andere Lebensbereiche wie Freunde, Familie, Partnerschaft, Ausbildung, Studium und Beruf vernachlässigen. Sie isolieren sich mehr und mehr von ihrer sozialen Umwelt. Die Gefühle der Ausgeschlossenheit und der Unzulänglichkeit, das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören, verstärken sich, was zu weiterer Nahrungsrestriktion oder Essanfällen führen kann.

Welche Alarmsignale sind noch zu beachten?

Conny Rabe: Allein die körperliche Erscheinung mit auffälligem Gewichtsverlust, augenscheinlichen Gewichtsschwankungen, blaue Hände und Lippen, Hamsterbacken, obwohl die Betroffene sehr dünn ist und das Verstecken des Körpers durch verhüllende Kleidung können Anzeichen für eine Essstörung sein. Das Umfeld von Betroffenen kann auch Wesens- und Verhaltensveränderungen wahrnehmen, die einhergehen mit häufig starken Stimmungsschwankungen bis hin zu depressiven Verstimmungen, auffälligem Rückzugsverhalten, Unruhe, Vermeiden von gemeinsamen Mahlzeiten, täglichem Wiegen, Nörgeleien über das Körpergewicht oder bestimmte Körperpartien. Schulisch beziehungsweise beruflich können Betroffene perfektionistisch veranlagt sein, was sich in besten schulischen und beruflichen Leistungen trotz auffälliger Schwächezustände zeigen kann. Trotz Konzentrations- und Denkstörungen haben sie höchste Ansprüche und Erwartungen an sich selbst und an ihre Leistungen.

Wie schnell kann eine Diät in eine Essstörung führen?

Conny Rabe: Es müssen unterschiedlichste Faktoren zusammentreffen, die bei jeder Betroffenen unterschiedlich kombiniert sind. Das heißt, dass bestimmte Umweltbedingungen wie Schönheitsideal, Leistungsdruck in Schule und Beruf oder inadäquate Familienbeziehungen und individuelle Faktoren wie instabile biologische und psychologische Merkmale einer Person - zum Beispiel Depression - sowie akute und chronische Belastungen wie Trennungen, Verlust oder Missbrauch aufeinandertreffen müssen, um den Teufelskreis von Nahrungsrestriktion und Hungern, Heißhungerattacken und Erbrechen auszulösen und aufrechtzuhalten.

Conny Rabe ist Diplom-Trophologin, Ernährungstherapeutin und systemische Therapeutin. Sie praktiziert in der Praxisgemeinschaft Dr. Altmann und Sieler in Leipzig.

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